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Heute ist ein strahlend schöner Feiertag, es ist Allerheiligen. Es ist ein Festtag der katholischen Kirche zu Ehren aller Heiligen, der „verherrlichten Glieder der Kirche, die schon zur Vollendung gelangt sind“. Der morgige Tag Allerseelen ist dem Gedenken aller Verstorbenen gewidmet. Wir denken an die „armen Seelen“ im Fegefeuer, die noch nicht die Gemeinschaft mit Gott erreicht haben. Aber selbst wenn man sich keiner Religion zugehörig fühlt und sich als nicht gläubig bezeichnet, werden dieser Tage viele Menschen den Weg auf den Friedhof finden, um das Grab eines verstorbenen Angehörigen zu besuchen. So sieht es in unseren Breiten die Tradition vor und die vielen parkenden Autos vor den Friedhöfen bestätigen das. Ich selbst vermeide es an diesem Tag hinzufahren, es ist mir einfach zu viel Rummel.

Braucht es überhaupt ein Grab, um an einen Verstorbenen zu denken? Ich habe ein wenig nachgeforscht und bin auf einen interessanten Artikel gestoßen: „Der beste Ort für die Trauer ist ein Grab, an dem sie sichtbar werden darf.“ Demzufolge gibt es Studien, die besagen, dass es sogar ein menschliches Grundbedürfnis ist, eine Ruhestätte für seine Angehörigen zu haben und sie individuell zu gestalten. Nur so kann man erfolgreiche Trauerarbeit und Trauerbewältigung leisten. Anonyme Gräber wie Rasengräber, Baumbeisetzungen oder Seebestattungen würden vielen Trauernden nur bedingt dabei helfen.

Wie habe ich damals meine Entscheidungen getroffen? Kathi hat sich während ihrer Krankheit Gedanken darüber gemacht, wo sie begraben werden möchte. Das war zu einem Zeitpunkt, als wir noch fest an ihre Heilung geglaubt haben. Es ging eher darum, einen bestimmten Ort festzulegen. Wir sind oft umgezogen und ein traditionelles Familiengrab gab es noch nicht. Deshalb haben wir gemeinsam Überlegungen angestellt, uns im Internet Bilder von Friedhöfen angesehen, die infrage kommen könnten. Letztendlich war der Krebs schneller und es kam nie dazu, dass wir die passende Ruhestätte festgelegt hätten.

Nach ihrem Tod war ich erst einmal wie gelähmt, emotional restlos überfordert. Wie sollte ich es nur schaffen, das Richtige zu tun? Kathi hat bis auf den Wunsch nach einer Feuerbestattung keine konkreten Anweisungen für ihre Beerdigung hinterlassen. Was hätte sie sich vorgestellt? Jetzt, wo der Kampf ums Überleben beendet war und es für mich scheinbar nichts mehr zu tun gab, wollte ich auf jeden Fall eine Trauerfeier ganz in ihrem Sinne ausrichten. Ihre Familie, alle Freunde und Bekannte sollten die Gelegenheit haben, ihr in Würde „Lebewohl“ zu sagen und ihr die letzte Ehre zu erweisen. Ich habe mich dabei viel auf meine Intuition verlassen. Trotz der gewünschten Urnenbeisetzung sollte sie an einem „schönen Platz“ beerdigt werden. Eine Wandnische an der Friedhofsmauer kam für mich nicht in infrage. Kathi hatte sich ein schattiges Plätzchen gewünscht. Das wusste ich deshalb, weil wir im Juli 2014 meine Mutter zu Grabe getragen haben. Kathi war zu dieser Zeit durch die Chemotherapie extrem licht- und hitzeempfindlich. Sie trug einen breitkrempigen Sonnenhut und suchte Schutz unter einem der wenigen Bäume auf dem Friedhof. Ich setzte mich zu ihr und sie sagte: „Bitte Mama, nicht auf diesem Friedhof. Ich brauche Schatten, mir ist es hier zu heiß“. Ich weiß heute nicht mehr, was ich darauf geantwortet habe oder ob ich überhaupt etwas gesagt habe. Vergessen habe ich es nicht.

Durch die Empfehlung einer Freundin fiel die Wahl schließlich auf den Friedhof in Bad Vöslau. Kathi hatte dort vor Jahren ihre erste kleine Wohnung bezogen und es lag zudem in der Nähe meines Wohnortes. Auf dem Gemeindeamt von Bad Vöslau bekamen meine Tochter Julia und ich eine Liste mit freien Grabstätten ausgehändigt. Man durfte sich also selbst auf den Weg machen. Ich wunderte mich sehr über diese unpersönliche Vorgehensweise, ich hatte mir zumindest etwas Beratung, Betreuung oder Beistand bei dieser schwierigen Aufgabe erhofft. Wir hielten ein weißes, unliniertes DIN-A4-Blatt in der Hand, die Grabnummern waren mit Bleistift notiert. Noch zaghaft und unsicher schritten wir durch das Friedhofstor. Mein Blick fiel sofort auf die vielen hohen Bäume entlang der Wege. Plötzlich war ich ganz ruhig und zuversichtlich, ich war mir sicher, wir sind hier richtig. Ein wunderschöner Friedhof mit altem Baumbestand, so friedlich, beschaulich und stimmungsvoll. Wir gingen eine Reihe nach der anderen ab und folgten den Nummern auf unserer Liste. In der Zwischenzeit hatte es leicht zu regnen begonnen, aber wir hatten noch keine Auswahl getroffen. Der Regen wurde immer stärker und das Blatt in Julias Händen drohte sich aufzulösen. Und ja, ich sehe es als ein Zeichen von Kathi selbst, dass wir just in diesem Moment vor dem richtigen Grab mit der Nummer 1118 standen, als der Fetzen Papier vollends auseinanderfiel. Das hier war perfekt! Schattig und sonnig zugleich, inmitten einer Reihe von anderen gepflegten Grabstätten. So absurd es auch klingen mag, irgendwie schien es hier gemütlich zu sein.

Nach der Wahl der Grabstätte kümmerte ich mich um den Grabstein. Mir war klar, dass ich auf keinen Fall eine schwarze oder graue Grabplatte haben wollte, die das Grab hermetisch abschloss. Kathi würde keine Luft bekommen. Schon seltsam, welche Gedanken einem in so einer Extremsituation kommen. Trauer blockiert offensichtlich die Logik. Ich teilte meine Wünsche dem Steinmetz mit, den ich mir gesucht hatte. Er war sehr verständnisvoll und hatte genau das Richtige für mich. Vor Jahren hatte er auf dem Wiener Zentralfriedhof einen weißen Marmorgrabstein abgetragen. Der Stein, verziert mit Rosen und Tauben, stammte aus dem vorigen Jahrhundert, war in wundervoller Handarbeit aus einem Stück gehauen. Er hatte ihn mehrmals gründlich gereinigt und in liebevoller Detailarbeit restauriert. Nun stand er im Schauraum des Steinmetzes und wartete darauf, dass ich ihn entdeckte. Es war genau das, wonach ich gesucht hatte.

In den ersten zwei, drei Jahren nach Kathis Tod ging ich noch sehr oft auf den Friedhof. Es war mir immens wichtig, dass ihre Ruhestätte immer gepflegt aussah, frische Blumen und Kerzen da waren. Ich spürte sie zwar dort nicht intensiver als sonst wo, aber ich fand dort Ruhe und konnte mich bewusst mit meinen Gefühlen auseinandersetzen. Mit der Zeit wurden meine Besuche seltener. Ich tauschte die Drei-Tages-Kerzen gegen LED-Kerzen aus, wählte Pflanzen, die widerstandsfähig sind. Das ist für mich in Ordnung, ich habe deswegen kein schlechtes Gewissen. Ich spüre Kathis Energie überall, nicht nur an ihrem Grab.

Kurz nach den heftigen Regenfällen und Stürmen im September musste auf dem Bad Vöslauer Friedhof gut ein Drittel des Baumbestandes gefällt werden. Viele der meterhohen Bäume drohten umzustürzen. Es wird Jahre dauern, bis neue gepflanzt werden und wieder Schatten spenden können. Das hat mich trotz meines mittlerweile vernunftbetonten Zugangs verunsichert.

Vielleicht pflanze ich im Frühling doch noch einen Baum auf ihrem Grab, damit es für Kathi im Sommer nicht zu heiß wird.

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