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Marianne und mich verbindet eine langjährige Freundschaft. Wir teilen wunderschöne und vor allem lustige gemeinsame Erinnerungen, haben aber auch schwere Krisenzeiten miteinander durchgestanden. Marianne hat vor zwei Jahren ihren Ehemann verloren, den sie während seiner Krankheit zu Hause betreut hat. Während wir uns an unserem Lieblingsplatz in Mariannes Küche unterhalten, läuft auf Ö3 „Heast das ned“ von Hubert von Goisern. Wir halten beide inne und hören einen Moment lang zu, bevor wir unser Gespräch beginnen.

Marianne, wie hast du Gerhard kennengelernt? Wie würdest du euer gemeinsames Leben beschreiben?

Wir haben uns 25 Jahre lang begleitet und ich bin dankbar für jedes einzelne Jahr. Unsere Beziehung begann mit „Loslassen“ und endete auch mit „Loslassen“. Ich habe Gerhard auf der Pflegestation kennengelernt, auf der ich damals gearbeitet habe. Es war die Zeit nach dem Lainzer Pflegeskandal, der die österreichische Gesellschaft aufgewühlt hatte. Als Reaktion auf die Missstände im Pflegesystem hatte man verfügt, dass künftig eine diplomierte Krankenschwester einer Station vorstehen musste. Und somit wurde ich mit knapp 20 Jahren als Leiterin eingesetzt und hatte schon als junge Frau große Verantwortung zu tragen. Gerhards Mutter lag auf meiner Station und ihr Ende war absehbar. Gerhard war die Nacht durchgefahren, um sie noch einmal zu sehen. Die offizielle Besuchszeit war längst vorbei und er wurde am Eingang abgewiesen. Er tat mir leid und so habe ich ihn in das Zimmer seiner Mutter begleitet. Er war so dankbar darüber, dass er mir am nächsten Tag Blumen geschickt hat. Darauf folgte eine Einladung zum Essen und der Rest ist Geschichte.

Dann war es also Gerhards Mutter, die euch zusammengebracht hat?

Da muss ich fast schmunzeln, aber du hast Recht. Seine Mutter war gestorben, damit ich ihn kennenlernen konnte. Sie musste scheinbar eingreifen, da er für sich selbst die Richtige nicht finden konnte. Wir haben später oft darüber gescherzt. Gerhard wurde mir vom Himmel geschickt, wo er jetzt wahrscheinlich auch ist.

Mariann, du hast beruflich mit den Themen Verluste, Loslassen und letztendlich dem Tod zu tun. Ist man dadurch auf einen persönlichen Schicksalsschlag besser vorbereitet?

Durch meine langjährige Tätigkeit als Psychotherapeutin und aus meiner Praxis als ehemalige Krankenschwester sind mir die Themen natürlich vertraut. Doch wenn es dich persönlich trifft, ist das soweit von dem entfernt, was du in der Theorie gelernt hast. Gerhard war 25 Jahre älter als ich, ein Altersunterschied, der für mich nie von Bedeutung war. Gerhard war so ein stattlicher Mann. Er war ein leidenschaftlicher Sportler, ein erfolgreicher Manager, aber vor allem ein positiver Lebensgenießer. Er war hart zu sich selbst, für ihn galten keine Ausreden. Seiner Familie gegenüber war er liebevoll und großzügig. Der Familienzusammenhalt, die Geborgenheit darin, das war immer sein höchstes Ziel.

Wann habt ihr Gerhards Veränderungen und seine beginnende Krankheit wahrgenommen?

Gerhard erkrankte im Alter von 74 Jahren und sein Leiden sollte uns zwei Jahre in Atem halten. Zuerst fiel mir nur seine leichte Verstimmung auf. Er war stets ein fröhlicher Mensch gewesen. Jetzt ging sein Antrieb immer mehr verloren. Die leichte Verstimmung wechselte zu einer anhaltenden depressiven Grundstimmung. Dazu kamen Konzentrationsprobleme, Orientierungslosigkeit und Verwirrtheit. Wir ließen seinen Zustand fachärztlich abklären und die Diagnose war niederschmetternd. Es wurde vaskuläre Demenz festgestellt, die durch Durchblutungsstörungen im Gehirn entsteht. Je nachdem, welcher Bereich betroffen ist, sind auch die Auswirkungen unterschiedlicher Natur. Das Krankheitsbild war mir bekannt, aber dass es einmal meine große Liebe treffen könnte, das war mir nie in den Sinn gekommen. Ich habe damals viel geweint, konnte es nicht glauben. Aber dann habe ich mich der Aufgabe gestellt. Es gab keine Wahl.

Die Pflege eines Demenzkranken ist sehr schwierig. Wie bist du anfangs damit umgegangen, wie hast du die Herausforderungen bewältigt?

Am Anfang konnte ich seine Pflege zu Hause noch recht gut bewerkstelligen. Solange sich Gerhard in seinem gewohnten Umfeld bewegte und einen geregelten Ablauf hatte, waren die Schwierigkeiten überschaubar. Unsere Kinder haben mich gut unterstützt, ich konnte bei der Betreuung auch auf die Hilfe von Freunden und Nachbarn zählen. Gerhards Krankheitsbild war von einer inneren Getriebenheit und auch Aggressionsbereitschaft geprägt. Er hatte diesen unaufhaltsamen Drang, ständig in Bewegung zu sein, er konnte nicht still sitzen. Wir begannen, endlos lange Spaziergänge zu unternehmen und ich konnte ihn auch nicht alleine losziehen lassen. Ich weiß es nicht, wie viele Kilometer wir zurückgelegt haben. Man erkannte uns schon von weitem, wenn wir immer und immer wieder unsere Runden gezogen haben.

Wann hast du dich dazu entschlossen, auf fremde Hilfe zurückzugreifen?

Gerhards Tagesbetreuung funktionierte mal mehr, mal weniger gut. Ich wollte und konnte meinem Beruf nicht aufgeben und somit musste immer jemand im Haus sein. So stießen wir bei der Organisation allmählich an unsere Grenzen. Wirklich schlimm waren die Nächte, in denen ich auf mich alleine gestellt war. Gerhard litt an einer Reizblase und war unzählige Male wach, machte Licht, weckte mich, lief im Haus umher. Ich war kraftlos vom Tag und fand keine Erholung im Schlaf. Irgendwann war es dann zu viel und wir mussten auf einen Pflegedienst zurückgreifen. Man kann sich nicht vorstellen, wie schwierig es ist, jemanden zu finden, auf den man sich verlassen kann. Insgesamt hatten wir vierzehn verschiedene Pflegekräfte bei uns zu Hause. Gerhard war damit gar nicht einverstanden und zeigte offen seinen Unmut. Mit fortschreitender Krankheit war er immer mehr auf mich fixiert. Es waren zwar alle involviert, die engste Familie, der Freundeskreis, aber wirklich beruhigen konnte nur ich ihn. Ich habe ihn in den Arm genommen, sanft auf ihn eingeredet und alles war wieder gut. Er hatte solche Angst vor dem Alleinsein. Immer wieder bat er mich, ihn nicht zu verlassen.

Hast du jemals daran gedacht, Gerhard in ein Pflegeheim zu geben.

Nein. Daran habe ich niemals gedacht. Ich habe ihm mein Versprechen gegeben, bis zum Schluss für ihn da zu sein. Selbst wenn es noch so schwer werden würde. Ich habe auch nie unser gemeinsames Schlafzimmer verlassen. Ich wollte bewusst seine Nähe genießen, solange uns die Zeit geschenkt war. Wir haben viel gekuschelt. Nachts, wenn er mich wieder geweckt hat, habe ich mich auf seinen Arm gelegt, das hat ihn beruhigt. Körperkontakt war mir so wichtig, ich wollte jede Sekunde auskosten. Egal, wie dement er war, ich wollte dieses Gefühl für die Zeit danach konservieren.

Warum hat sich sein Zustand so dramatisch verschlechtert?

Nicht die Demenz an sich, sondern eine schwere Sepsis, die er sich durch eine unzureichende Behandlung beim Urologen zugezogen hatte, führte dann zu einer rapiden Verschlechterung. Längst hatten wir das Wohnzimmer in ein Krankenlager umfunktioniert und Gerhards Bett dort aufgestellt. Es war mir wichtig, dass er mitten unter uns war und an unserem Alltag teilnehmen konnte. Um Weihnachten haben wir die Hoffnung auf Besserung endgültig aufgegeben.

Wie habt ihr euer letztes Weihnachtsfest gefeiert?

An Heiligabend waren alle da, Gerhards Kinder aus seiner früheren Beziehung, unsere beiden gemeinsamen Kinder, meine beiden Schwestern, meine Freundin Bea und Gerhards beste Freundin aus Kindheitstagen. Gerhard, in seinem Krankenbett sitzend, hatte mit uns noch Weihnachtslieder gesungen. Es war aber so spürbar, dass seine Kräfte immer mehr schwanden. Nach der Bescherung fuhren meine Schwestern kurz nach Hause, um ein paar Sachen zu holen. Sie wollten mich in dieser Phase nicht alleine lassen und haben sich kurzerhand für die nächsten Tage bei uns einquartiert. Wir haben das Wohnzimmer in ein Matratzenlager verwandelt. Niemand verspürte mehr das Bedürfnis, in seinem eigenen Zimmer zu schlafen. Sieben Tage und sieben Nächte haben wir gemeinsam gewacht, gekocht, gegessen, uns Geschichten erzählt, gelacht und geweint. Wir hatten eine Wohngemeinschaft gebildet und Gerhard war der Mittelpunkt.

Und zu Silvester sollte sein letzter Tag sein?

Am Silvestertag war dann auch eine Palliativärztin anwesend, die mit Medikamenten dafür sorgte, dass er keine Schmerzen erdulden musste. Er nahm kaum noch Flüssigkeit zu sich. Um ihn ein bisschen zu verwöhnen, haben wir ein Wattestäbchen in den Likör von Mon Cherie getaucht und damit seine Lippen benetzt. Die mochte er so gerne. Anna wusch ihm die Haare mit Trockenshampoo. Ihr Papa sollte gut aussehen, wenn er seine Reise antritt. Es war ein eigentümliches Warten, die Anspannung war unerträglich. Die Palliativärztin schmiss uns förmlich aus dem Hause und nötigte uns zu einem langen Spaziergang an der frischen Luft. Sie spürte, dass er nicht gehen konnte, solange wir alle um ihn waren. Als wir um 13 Uhr zurückkamen und die Türe öffneten, fiel ein Sonnenstrahl auf sein Gesicht und er hörte auf zu atmen.

Konntet ihr euch gut verabschieden? Wie seid ihr damit umgegangen?

Wir waren alle sehr gefasst, wir hatten uns über zwei Jahre jeden Tag ein Stückchen mehr von ihm verabschiedet. Wir schrieben noch ein paar Zeilen an ihn. Jeder für sich, ohne es mit den anderen zu teilen. Wir falteten die Zettelchen und steckten sie in die Tasche seines Sakkos, das wir ihm mitgegeben haben. Auch eine Armbanduhr haben wir ihm angelegt, Gerhard war Pünktlichkeit immer so wichtig gewesen. Zuletzt haben wir uns die Hände gereicht, ein Vater Unser gebetet und dann hat ihn der Bestatter abgeholt.

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