
Lange schon habe ich den Gedanken mit mir herumgetragen, den Jakobsweg zu gehen. Wann immer ich einen Film darüber gesehen habe, ging es darin um Trauerbewältigung und die Aufarbeitung eines schweren Verlustes. Am meisten beeindruckt hat mich der Film „Dein Weg“. Martin Sheen spielt darin den Vater von Daniel, der bereits am ersten Tag am Jakobsweg durch einen Unfall ums Leben kommt. Um seinen Sohn zu ehren, fliegt er nach Spanien, um für ihn den 800 Kilometer langen Pfad, den Camino Francés, bis nach Santiago de Compostela zu gehen.
Kathi war bei Gott keine Wanderin, sie war schon eher vom Typ Schaufensterbummlerin. Also ihre Wanderlust hat mich bestimmt nicht dazu animiert. Ich glaube, ich wollte für mich ein intensives Zeichen setzen, dass ich ein für alle Mal durch das Tief der Trauer durch war. Das hatte ich mir in allen Facetten ausgemalt und ausreichend geplant. Es gibt einen kleinen bunten Stein, den mir Julia, Kathis Schwester, bemalt hat. Er ist grau, flach und zeigt eine Kirsche, wiegt insgesamt exakt 122 Gramm. Diesen Stein wollte ich symbolisch an Kathis Stelle mitnehmen und in Muxia am westlichsten Zipfel des europäischen Kontinents, am Atlantik, im Sonnenuntergang, draußen am Leuchtturm zurücklassen. Am Ende der Welt, in friedvoller Umgebung, ein bisschen Unendlichkeit. Soweit das Bild in meinem Kopf, über viele Monate der Vorbereitung hindurch. Aus Zeitgründen hatte ich mich für den Caminho Portugues entschieden, der in zwei Wochen gut zu schaffen ist. Für den Camino Francés muss man schon einige Wochen mehr einplanen. Kurz und gut, mit dem Kirschenstein im Rucksack habe ich mich Ende Mai 2022 auf den Weg gemacht, 248 Kilometer von Porto Richtung Santiago de Compostela. Und somit fliege ich Ende Mai 2022, in Begleitung meiner Tochter Julia, nach Portugal.
Am Sonntagmorgen gehe ich ganz alleine los. Julia drückt mich noch einmal ganz fest zum Abschied und fährt Richtung Flughafen. Wir haben davor zwei wunderschöne Tage gemeinsam in Porto verbracht und für sie geht es jetzt wieder nach Hause. Für mich beginnt mein lang ersehntes Abenteuer. Beherzt wandere ich aus der Stadt Porto hinaus, entlang des Flusses Douro Richtung Atlantik. Je weiter ich die Stadt hinter mir lasse, desto öder wird der Weg. Ich laufe entlang der Straße auf Asphalt, keine Menschenseele ist zu sehen und bald bin ich längst nicht mehr so motiviert, wie ich es von mir erwartet habe. Ich verlaufe mich auch prompt, sehe die Schilder zu einer Autobahnauffahrt und finde mich inmitten von Containern in einem Industriegelände wieder. Hier bin ich definitiv am falschen Weg. Im nächsten Café mache ich eine Pause und versuche mich zu sammeln. So früh habe ich nicht mit der ersten Krise gerechnet. Als ich meinen Rucksack wieder aufnehme, ruft mir eine junge Mutter am Nebentisch „Bom Caminho“, was übersetzt „Guten Weg“ bedeutet, zu. Sie schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln und da ist es endgültig vorbei mit meiner Beherrschung. Die Tränen laufen unaufhaltsam und ich fühle mich wie der verlorenste, einsamste Mensch auf der ganzen Welt.
Schritt für Schritt kämpfe ich mich auf den richtigen Weg zurück. Ich bin endlich am Atlantik, sehe den Wellen zu, kann Meeresluft atmen und meine mentale Kraft wiederfinden. Als vor mir eine kleine Kirche am Strand auftaucht, packe ich Kathis Stein aus dem Rucksack und lege ihn zum Fotografieren ans Kirchenfenster. Plötzlich werde ich ruhig und ich spüre, dass das, was ich hier tue, einfach richtig ist. Und dass es gut ist, Schwäche zuzulassen und sich seine Verletzlichkeit einzugestehen.
Ich erlebe noch einige tiefe Momente, in denen ich mich ernsthaft frage, ob es richtig war, mich auf diese Reise einzulassen. Doch ich habe mein Ritual gefunden. Geht es mir schlecht, packe ich den Stein aus. Er wiegt nur 122 Gramm und somit kann ich ihn auch streckenweise in der Hand halten. So laufe ich in Erinnerung an Kathi unaufhaltsam den Pfad weiter und lerne dabei viel über mich selbst. Ich treffe auf freundliche Menschen, die mich ein Stück meines Weges begleiten. Ich verabschiede mich wieder von ihnen, wenn ich das Gefühl habe, allein sein zu müssen. Ich finde eine Routine, die mir gefällt, und bin voller Zuversicht und manchmal fühle ich sogar Sekundenglück.