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Während ich in der ersten Woche alleine durch Portugal gewandert bin, bekomme ich in der zweiten Woche Gesellschaft. Meine langjährige Freundin Claudia schließt sich mir an, wir wollen gemeinsam das Ziel Santiago de Compostela erreichen. Claudia ist mit dem Flugzeug nach Porto gereist und dann mit dem Bus nach Valença an der portugiesisch-spanischen Grenze gefahren. Ich hole sie vom Busbahnhof ab und wir umarmen uns freudig. Ich fühle mich unendlich erleichtert und ich überschlage mich mit Erzählungen von meiner Zeit hier in Portugal. Doch wir müssen los, bis zu unserer heutigen Unterkunft müssen wir noch viele Kilometer zurücklegen. Für Claudia, die müde von der Anreise ist, wird das hart.

Es ist nicht unsere erste gemeinsame Reise und wir finden sofort in unseren vertrauten Gleichklang. Schon vor Reiseantritt habe ich Claudia in mein Vorhaben eingeweiht. Sie hat die Geschichte mit dem Stein auf Anhieb verstanden und auch nicht weiter hinterfragt. Für unseren gemeinsamen Weg ist es daher völlig normal, dass ich immer wieder den Stein aus dem Rucksack nehme und meine Fotos mache. Es ist so heilsam und wohltuend, ohne große Worte seine Gefühle teilen zu können.

Wir erleben eine herrliche, abwechslungsreiche Woche voller kleiner Abenteuer. Nicht immer ist der Weg angenehm, nicht immer ist die Landschaft schön, nicht immer scheint die Sonne, nicht immer macht das Gehen Spaß. Aber gemeinsam können wir uns motivieren, trösten und uns gegenseitig aufrichten. Und wenn gar nichts mehr geht, dann hilft eine längere Pause im nächsten Lokal, ein Kaffee, eine geteilte Dose Bier und/oder eine Zigarette. „Ich glaube, wir rauchen erst mal eine“, ist das geflügelte Wort, das notwendige Krisensitzungen einleitet. Und das, obwohl ich Nichtraucherin bin.

Zu zweit verfliegt die Zeit, wir machen auch kaum mehr Bekanntschaften, weil wir uns selbst genug sind. Und dann ist es so weit – nach einer anstrengenden letzten Etappe sind wir an unserem Ziel, in Santiago de Compostela. Vor der imposanten Kathedrale umarmen wir uns überglücklich und lassen die Stimmung der angekommenen Pilger aus aller Welt auf uns wirken. Gezeichnet von den Strapazen, verschwitzt und staubig schnaufen wir erst einmal durch. „Ich glaube, wir rauchen erst mal eine“, unterbricht das Staunen und wir halten nach dem ersten Lokal Ausschau. Ein wunderbarer, eisgekühlter weißer Spritzer soll es sein! Und wir bekommen ihn, Kathis Stein liegt auf dem Tisch und wir sind in Hochstimmung. Mission fürs Erste erfüllt.

Und in dieser Hochstimmung, auf den Treppen, die Kathedrale vor mir, beschließe ich dann, ich werde den Stein nicht nach Muxia tragen. Ich werde ihn gar nirgends hinlegen und zurücklassen. Ich nehme ihn einfach wieder mit. Es bedarf keines theatralischen Schlusspunktes, weil es kein Ende gibt. Kathi ist immer bei mir, die Trauer um ihren Verlust ist immer da, da kann ich so weit laufen, wie meine Beine mich tragen.

Claudia nickt nur verständnisvoll. Wie so oft muss ich nichts erklären. „Auch gut“, meint sie und bestellt uns noch eine zweite Runde. Ich glaube, das hätte auch Kathi gefallen.

Am Abend besuchen wir die Kathedrale. Wir nehmen an der Pilgermesse teil und wissen nicht, ob auch heute der berühmte Botafumeiro, der wohl größte Weihrauchkessel der Welt, zum Einsatz kommen wird. Wir haben unendliches Glück! Als der Weihrauchkessel in die Seitenschiffe schwingt und seinen intensiven Duft verströmt, halte ich noch einmal inne. Ich spüre für einen kurzen Moment die spirituelle Reinigung und bin rundum zufrieden.

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