
„Komm endlich raus aus deiner Opferrolle“, sagte kürzlich eine sehr liebe Freundin zu mir. Dieser Aussage war ein Gespräch vorausgegangen, das sich um die Folgen einer Krebserkrankung gedreht hatte. Ich hatte mich – so meinte ich zumindest – vorsichtig kritisch dazu geäußert, dass es sich laut ihrer Darstellung nur um eine vorübergehende Beeinträchtigung handelt, die mit positiver Einstellung in absehbarer Zeit wieder zum normalen Leben zurückführen würde. Sie meinte, dass eben ihr Glas immer halb voll wäre, das sei ihre Überlebensstrategie. Meines wäre tendenziell eher halb leer und das könne sie momentan gar nicht gebrauchen.
Ganz ehrlich, der Satz „Komm endlich raus aus deiner Opferrolle“ hat mich ungemein beschäftigt und tut es immer noch. Bin ich tatsächlich als verwaiste Mutter (diesen Ausdruck gibt es wirklich) zum Opfer geworden und habe mir diese Rolle wie eine Marotte zugelegt? Habe ich, weil meine Tochter gestorben ist, diese Rolle eingenommen und müsste jetzt endlich, nachdem ihr Tod neun Jahre zurückliegt, daraus wieder aussteigen und aufhören? Aufhören womit? So negativ zu sein, so pessimistisch zu sein, so traurig zu sein, so festzuhalten an dem, was ich verloren habe.
Auf einer Website des Vereins für „Trauernde Eltern“ habe ich Tipps gefunden, die bei der Bewältigung der Trauer helfen könnten. An erster Stelle steht der Ratschlag: „Reden Sie regelmäßig mit Ihren Freunden. Erzählen Sie, was in Ihnen vorgeht und was Sie fühlen.“
Das mag schon stimmen, aber das gilt wohl nur für einen ganz kleinen Kreis von Freundinnen und Freunden und nur für die erste Zeit der Trauer. Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass die Menschen in meinem Umfeld sich nichts sehnlicher wünschen, als dass es mir endlich wieder gut gehen möge. Aus der Hilflosigkeit heraus, ihre Anteilnahme und Betroffenheit in Worte zu fassen, sagen viele gar nichts, vermeiden es krampfhaft, das Gespräch darauf zu bringen und viele suchen auch einfach nur Abstand. So ist unser Umgang mit dem Tod. Und wenn es das eigene Kind betrifft, möchten die meisten gar nicht daran erinnert werden, dass das auch ihnen selbst passieren könnte.
Also habe ich schnell gelernt, für mich alleine zu weinen und traurig zu sein. Um hemmungslos weinen zu dürfen, habe ich mir eigene Zufluchtsorte gewählt. Anfangs bin ich nachts mit dem Auto durch die Gegend gefahren, damit ich meinen Schmerz ungehindert herausbrüllen konnte. Später habe ich für Therapiestunden bezahlt und einer Psychologin meine Tränen zugemutet. Für die anderen überwindet man seine Trauer, passt sich an, tut einfach weiter. Weil das Leben, so wird es uns erzählt, muss ja weitergehen. Aber das tut es nicht, es ist in Wirklichkeit alles anders. Ein Kind kann nicht ersetzt werden und Krebs ist in meiner Welt eine Krankheit mit tödlichem Ausgang. Das Grundvertrauen ins Leben ist ein für alle Mal zerstört. Und trotzdem würde ich nicht meinen, dass mein Glas tendenziell halb leer ist, sondern dass mich Kathis Tod gelehrt hat, dass eben nicht alles gut wird, auch wenn wir uns noch so sehr darum bemühen. Und es heißt auch nicht, dass man nicht wieder Glück erfahren kann. Im Gegenteil, die Geburt meiner beiden Enkelinnen sehe ich als Geschenk, sie sind ein Segen für mich. Dennoch bin ich immer noch tieftraurig, dass Kathi nicht mehr ist. Und ich denke, ich werde es Zeit meines Lebens sein.
Aus diesen Überlegungen heraus möchte ich meinen Blog wiederaufleben lassen. Es interessiert mich auch, wie andere Betroffene mit der Trauerbewältigung zurechtgekommen sind und wie sich ihr Leben verändert hat. Weil es so schwer ist, jemanden zu finden, mit dem man sich ehrlich austauschen kann. Daher würde ich mich über Feedback zu diesem Blog und Mails von Betroffenen freuen, ohne Opfer zu sein!